|
 |
 |
|
Was ist Faulheit?
Faulheit, Müßiggang, Trägheit, Nachlässigkeit, Nichtstun. Diese Begriffe werden in ihrer geschichtlichen Entwicklung nicht trennscharf verwendet. Im Mittelalter war das Wort Trägheit verbreitet und entstammt dem Kampf der Mönche gegen die Todsünde der Acedia. (vgl. Kap. 2) Faulheit ist das Schimpfwort, das den Diskurs im 16. und 17. Jahrhundert beherrscht. Es ist unmittelbar auf Arbeit bezogen; wer nicht arbeitet, ist faul. Demgegenüber ist das Wort Müßiggang sehr viel weiter gefasst und wird geradezu inflationär für alle nur denkbaren Abwei- chungen vom „normalen“ Verhalten gebraucht.„Der Hang zur Ruhe ohne vorhergehende Arbeit ist Faulheit.“ konstatiert der Philosoph Immanuel Kant. Dies ist freilich nur eine dürre und karge Definition.
Kants Kollege, der Philosoph Christian Thomasius (1655-1728) hatte bereits 100 Jahre zuvor eine differenziertere Sichtweise. Er unterscheidet zwischen grobem und subtilem Müßiggang. Der grobe Müßiggang bedarf keiner weiteren Erklärung; es ist das offenkundige faule Nichtstun, die Vernachlässigung der verordneten Pflichten. Hier ein Beispiel: Helbling steht im Büro an seinem Schreibpult und die Arbeit ödet ihn wieder einmal unsäglich an. Die Zeit will einfach nicht vergehen. „Er bemüht sich, zu versuchen, ob es ihm möglich sei, den Gedanken zu fassen, dass er jetzt arbeiten müsse.“ (Robert Walser 1972, S. 219) Um Zeit zu schinden, verschwindet er auf der Toilette, wo er volle zwölf Minuten zubringt. Währenddessen stürzen die Kollegen an sein Pult, um zu sehen, was er denn nun in der letzten Stunde geschafft hat. Und mit Verblüffung stellen sie fest, dass da nicht mehr als drei Zahlen stehen - sowie eine Vierte im Ansatz! Komplizierter verhält es sich mit dem subtilen Müßiggang, der sich vordergründig fleißig gibt und äußerlich vom Arbeitseifer nicht zu unterscheiden ist. Thomasius gibt ein Beispiel: Ein Bauernknecht drischt fleißig auf der Tenne zusammen mit einer Magd Korn. Das tut er aber nur mit dem Hintergedanken, nach vollbrachter Arbeit die Magd im Heu zu verführen.Kehren wir zur Wissenschaft zurück.
Der Philosoph Peter Sloterdijk definiert Faulheit und Müßiggang als „Passivitätskompetenz“. Aber auch dieser launige Begriff hilft nicht weiter; denn Müßiggang resp. Faulheit müssen ja nicht notwendig durch Passivität geprägt sein. Passiv ist, wer das, was er tun soll, unterlässt. Das faule Kind, das nicht lernen will, Dienstboten, die keine Lust zum Arbeiten haben, oder Menschen, die schlicht ihre Zeit vertrödeln. Müßiggang kann sich aber auch ausgesprochen aktiv geben. Extrem ist dies beim geschäftigen Müßiggang, beim frommen Müßiggang mit seinen übertriebenen Betorgien oder dem allseits umtriebigen wollüstigen Müßiggänger der Fall.
Dass ein Fauler bestraft wird, ist in einer Arbeitsgesellschaft nicht ver- wunderlich. Gibt es aber auch den umgekehrten Fall, dass ein arbeitsamer Mensch mit dem Gesetz in Konflikt geraten kann? Dies ist der Fall, wenn z.B. ein Gelehrter am Sonntag bei offenem Fenster forscht. Die Juristen sind hier sofort zur Stelle und verweisen auf die einschlägigen Paragraphen des Feiertagsrechts. Danach macht sich strafbar, wer öffentlich sichtbar am Sonntag arbeitet. So ist es jedenfalls in einem Buch über das Feiertagsrecht von 1929 zu lesen. (Nass 1929, S.40) Dabei ist es nicht einfach - das geben die Juristen auch zu -, einem Gelehrten am Fenster den Gesetzesbruch nachzuweisen. Welches sind die Indizien? Vielleicht Schweiß auf der Stirn?
Müßiggang ist kein absoluter Begriff. Was als Müßiggang oder Faulheit kritisiert wird, hängt von den jeweils vorherrschenden Formen der Arbeit ab. So wurde z.B. in einer Gesellschaft, die von körperlicher Arbeit geprägt war, der Büromensch schnell zum Faulenzer, da sein Arbeiten ja nicht unmittelbar sichtbar ist. (S.186) Wer ist ein Müßiggänger? Der Angler, der bequem auf seinem Anglerstuhl sitzt? Die Katze, die vor einem Mauseloch lauert und auf ihre Beute wartet? Wie steht es überhaupt mit dem Warten? Ist es Müßiggang, wenn jemand in einer Einkaufsschlange steht oder im Wartezimmer eines Arztes sitzt? Gibt es jemanden, der gar nichts tut?
Worin besteht der Unterschied zwischen der Muße und dem Müßiggang. Vor einiger Zeit (2011) brachte der „Spiegel“ hierzu eine Titelgeschichte und warf beide Begriffe heillos durcheinander. In der Tat, beide können sich äußerlich aufs Haar gleichen. Der Augenschein kann keinen Unterschied zwischen beiden, Muße und Müßiggang, erkennen. Und doch sind es grundverschiedene Welten. Der Müßiggänger verrichtet nicht das, was er tun soll. Er flieht seine Pflichten, um sich anderweitig die Zeit zu vertreiben, oder faul in der Ecke zu sitzen. Dagegen steht derjenige, der sich der Muße hingibt, unter keinerlei Zwang. Er tut, wozu er Lust und Laune hat. Für ihn gibt es keine äußere Instanz, die mahnend an irgendwelche Arbeitspflichten erinnert. In seiner historisch-klassischen Form verweist der Begriff Muße insofern auf ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis. Auf die Existenz einer privilegierten Klasse, die jenseits des lästigen Alltagskrams und frei von entfremdeter Arbeit tun und lassen kann, was sie will, ohne dabei zu verhungern oder bestraft zu werden. Heute wird das „altmodische Wort Muße“ (Habermas) meist etwas unscharf und ungenau durch den Begriff Freizeit ersetzt; ungenau deshalb, weil Freizeit zwar Inseln der Muße ermöglicht, sie aber nicht automatisch zur Folge hat. Der seit etwa 150 Jahren wachsende Bereich der Freizeit hat die fremdbestimmte Arbeit zwar nicht beseitigt, schafft aber immerhin Voraussetzungen für Phasen selbstbestimmten Lebens.
|
|
|